Musculus: Hier wird ein Stück Sommer genäht

17.08.2023
Musculus: Hier wird ein Stück Sommer genäht

Eine florierende Manufaktur für technische Textilien und Markisentücher gibt es seit fast 100 Jahren in Bensberg, die Georg Musculus GmbH & Co. KG, ihr Schwerpunkt liegt auf Sonnenschutztextilien. Was im Bergischen zugeschnitten, genäht und dann gerollt weltweit an Hersteller versandt wird, erfreut den Endkunden schließlich als Terrassenmarkise, Fenstermarkise, Balkontuch, Dach eines Verkaufsstands, Schutzhaube oder oder oder … Und das in 800 möglichen Farben.
Bei all dem hat die vierte Familiengeneration in der Georg Musculus GmbH & Co. KG viel umgekrempelt und einen besonderen Fokus auf das Wohlergehen der Mitarbeiter gelegt – inklusive Ende des Gender Pay-Gap.

„Wir sind als Konfektionär unabhängig und flexibel“, freut sich Prokuristin Sandra Musculus, die in vierter Generation in dem mittelständischen Familienunternehmen arbeitet, wo sie zwischen Stoffen, Mitarbeitern und Maschinen groß geworden ist. Schmunzelnd räumt sie ein: „Ich kann im Vorbeigehen sagen, wo ein Markisentuch herkommt.“ Markisen zögen ihren Blick magisch an, sogar im Urlaub ginge ihr Blick mehr nach oben als in die Läden. „Mein Freund wünscht sich, ich hätte einen Handtaschentick!“

Georg Musculus und seine Tochter Sandra, die mit ihrem Bruder Christopher das Unternehmen weiterführt

Seit der 73-jährige Senior Georg Musculus – Geschäftsführer mit Ruhestandgedanken – seinen Kindern Christopher und Sandra als Prokuristen immer mehr freie Hand lässt, hat sich manches verändert. Während für den Sohn, einen gelernten Industriekaufmann, der Einstieg ins Unternehmen immer feststand, arbeitete die Tochter zunächst anderswo als Werbekauffrau. Doch aufgrund der „engen emotionalen Verbundenheit“, sagt Sandra Musculus, habe sie probeweise eine freie Stelle im Büro des Familienbetriebs übernommen („Ich konnte meine Digitalkamera nicht mal anschließen“) und sogleich die Ärmel hochgekrempelt. Ihr erster Streich: 2005 Einführung eines ERP-Systems in Zusammenarbeit mit dem Kürtener Systemhaus Kolb. „Da hatte ich Blut geleckt.“ Sie blieb, erstellte ein Lastenbuch und lernte dadurch jeden Arbeitsplatz kennen. 2017, als die Geschwister Prokura erhielten, splittete die Firma Musculus („5 Familienmitglieder auf 75 Mitarbeiter“) sich in zwei separate Firmen auf: Seither gibt es am selben Standort – was oft zu Verwirrung führt – die Georg Musculus GmbH & Co. KG für technische Textilien und Markisentücher sowie die Musculus Sonnenschutz GmbH & Co. KG für Sonnenschutz und Gartenmöbel.

Kurzer Blick in die Firmengeschichte

Georg Musculus, Uropa der heutigen Prokuristen, gründete das Unternehmen „Georg Musculus Zelte–Planen–Markisen“ 1924 in Köln. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Firma, die 15 Mitarbeiter hatte, komplett zerstört. Der Sohn und seine Frau bauten sie in Köln-Deutz wieder auf. Durch den Camping-Boom florierte Musculus mit Wohnwagenvorzelten und Campingartikeln, wurde über NRW hinaus bekannt. Der Platz reichte nicht mehr, und die wachsende Firma musste umziehen – an den heutigen Standort in Bensberg, wo die Frau des Chefs herstammte.
3.000 Quadratmeter Produktions- und Verkaufsräume stehen dort bis heute den Unternehmern zur Verfügung. Die Gebäude sind neueren Datums: Nachdem ein Großbrand 1990 alles zerstört hatte, wurden sie neu errichtet von den Söhnen Georg Christian und Klaus Musculus, die nun die Geschäftsleitung übernahmen. Als die nächste Generation ebenfalls ins Unternehmen einstieg, wurde es nach Geschäftsbereichen aufgeteilt: Klaus Musculus und sein Sohn führen seither die Endverbraucher-Firma für Sonnenschutz und Gartenmöbel, Georg Musculus und seine Kinder die B2B-Firma für technische Konfektion.

Veränderungen im Betrieb

Senior Georg Musculus ist immer noch täglich im Betrieb, spricht mit den Mitarbeitern, prüft hier und da das Tuch. Ums tägliche Geschäft kümmern sich seine Kinder, die Bereiche klar aufgeteilt: Christopher Musculus ist zuständig für den Vertrieb, Sandra Musculus für Büro, Orga, Personal. Auch da hat sie mit Hartnäckigkeit für Veränderungen gesorgt.
Die einzelnen Maßnahmen für die Mitarbeiter:

  • Arbeitsplatz-Verbesserung
    Jeder Arbeitsplatz wurde mit Tageslichtlampen ausgestattet. Die Arbeitstische sind höhenverstellbar. Für Steharbeitsplätze in der Produktion wurden gepolsterte Bodenmatten angeschafft zum Entlasten der Gelenke.
  • Gehalt ohne Gender Pay Gap
    „Wir haben es geschafft, den Pay Gap völlig abzuschaffen“, sagt Sandra Musculus stolz, die bei Übernahme der Lohnbuchhaltung entsetzt gewesen war, dass es überhaupt einen Unterschied in der Bezahlung von Frauen und Männern gab – für die gleiche Arbeit. „Diese Veränderung hat uns viel Kraft gekostet.“ Bezahlt wird nun nicht nach Tarif oder Geschlecht, sondern nach Können, Leistung und Einsatz – und zwar Frauen genauso wie Männer.
  • Altersvorsorge
    Alle Mitarbeiter erhalten eine betriebliche Altersvorsorge.
  • Gesundheitsvorsorge
    Für alle Mitarbeiter gibt es eine kostenlose Zahnersatz-Zusatzversicherung. Außerdem gibt es unregelmäßig Angebote zur Ernährungsberatung, Rückenschule, den Aktionstag einer Krankenkasse oder Fitnesstipps.
  • Gemeinschaftsspaß
    Ein Eis für jeden zwischendurch oder ein Foodtruck, der mal vorfährt: Sandra Musculus sorgt immer mal wieder für Gemeinschaftsspaß.
Eine Mitarbeiterin am Verbahnautomat

Hinter diesem Engagement für die Mitarbeiter steht die Erkenntnis, dass ohne sie nichts läuft und dass gute Leute Mangelware sind. Derzeit gibt es 63 Beschäftigte, davon nur etwa ein halbes Dutzend in Teilzeit, die Frauenquote liegt insgesamt bei 38 Prozent. Endlich hätten sie seit August wieder zwei Auszubildende, freut sich Sandra Musculus, die sich als „Riesenfan der Arbeitsagentur Bergisch Gladbach“ outet, der sie den Kontakt zu den jungen Leuten zu verdanken hat. „Technischer Konfektionär“ heißt das Berufsbild – übrigens inhaltlich von Vater Georg Musculus mitgeprägt –, für das es in Deutschland nur zwei Berufsschulen mit jährlich 40 bis 60 Absolventen gibt. Sandra Musculus hat dazu gute Kontakte, schließlich ist sie Präsidentin des Industrieverbands Technische Textilien – Rollladen – Sonnenschutz.

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Ein Beruf für alle

Obwohl das Berufsbild geschlechtsneutral sei, hätten deutsche Männer oft Vorurteile, bedauert Sandra Musculus. „In unserer Gesellschaft ist Nähen eher etwas Weibliches.“ In anderen Kulturen sei das anders, weshalb sie dankbar für den Pool an Mitarbeitern ist, die sie unter den Asylbewerbern findet. „Gerade aus Syrien kommen viele Schneider, und die sind extrem happy, dass sie hier im weitesten Sinne wieder nähen können.“ Es sei eine Win-win-Situation: „Ich bekomme einen Rohdiamanten, und der Asylbewerber bekommt eine Arbeitserlaubnis.“ Dankbar ist sie besonders für einen gebürtigen Marokkaner, der als Meister am Zuschneidetisch steht: Er spricht Hocharabisch und kann dolmetschen. „Das hilft oft extrem.“

Blick in den Musterkatalog mit 800 Farben

Twilight, soltis, Veozip, Tempotest Star: Die Stoffkollektionen haben klingende Namen. Hergestellt würden sie ausschließlich in Europa, erzählt Sandra Musculus, vorzugsweise in Österreich, Italien, Frankreich und Spanien. Sie bestünden aus verschiedenen Materialien auf Natur- und Synthetikbasis, das Gros sei Ökotex-zertifiziert, alle Textilien erfüllen die REACH-Verordnung. Um Langlebigkeit und eine lange währende gute Optik zu erzielen, verfügen die Stoffe nicht nur über UV-Schutz und Antifungizide, sondern sind auch schmutz- und ölabweisend – und überdies formaldehydfrei. „Wir sind der Veredler dieser Stoffe.“

Rundgang über zwei Ebenen

Zur Veranschaulichung gewährt die Bensbergerin in einem Rundgang Einblicke hinter die Kulissen. Von den Büros geht es in die dahinter liegende zweigeschossige Produktionshalle. Hohe Fensterbänder in den Wänden lassen viel Licht herein, der Rest wird LED-beleuchtet. Im Erdgeschoss werden die schweren Materialien und Stoffrollen bis 3,20 Meter Breite konfektioniert, etwa Glasfasergewebe und PVC-beschichtete Tücher. Im Obergeschoss sind hingegen nur Stoffe bis 1,20 Meter Breite zu finden, die dort unter anderem vernäht werden.

Die Tücher werden gerollt

Manches Tuch kann am vollautomatischen Zuschneideautomat auf das vom Kunden gewünschte, individuelle Maß gebracht werden. Anderes wird von Hand geschnitten – mit Schere, Lineal und vor allem Augenmaß. Dass die Zuschneidetische hinterleuchtet sind, hat einen guten Grund: So lassen sich vor der Verarbeitung etwaige Webfehler erkennen. Verschiedene Tuchbahnen lassen sich zu großflächigeren Produkten zusammensetzen – entweder durch das Verschweißen der Bahnen mittels Hitze und Druck oder durch das Verbahnen mit Nadel und Faden. Letzteres funktioniert maschinell, allerdings unter den fachkundigen Blicken und Handgriffen der Mitarbeiter, die den passenden Faden mittels Pinzette in das Nadelöhr der Verbahnautomaten fädeln und die Stoffe millimetergenau in die Führung legen – mit bloßem Auge.

Der vollautomatische Zuschneideautomat wird hinterleuchtet, um Webfehler zu erkennen
Meister beim manuellen Zuschnitt für Muster eines Trapeztuchs
Hier werden Bahnen verschweißt

Mal manuell, mal maschinell

„Wir arbeiten verschnittoptimiert“, kommentiert Sandra Musculus den Mix aus maschineller und manueller Produktion. Da Reste aufgrund der Imprägnierungen als Sondermüll entsorgt werden müssen, sollen nur wenige anfallen. Größere Reste eines Auftrags werden gerollt und im Tuchlager aufbewahrt. Manches wird in der kalten Jahreszeit („Wir sind ein Saisonbetrieb“) als Werbegeschenk zu Rucksäcken und Taschen verarbeitet, anderes via Facebook an Einrichtungen wie Kindergärten verschenkt. „Wir versuchen so wenig wegzuwerfen wie möglich.“

Tuchreste werden sinnvoll verarbeitet
Die langen Tuchrollen müssen ins Erdgeschoss

Aber was ist das für ein Loch im Boden, durch das gerollte Tücher vom Obergeschoss ins Erdgeschoss verschwinden? Das Loch sei notwendig und zugleich ein Ärgernis, erklärt Sandra Musculus. Weil ein Aufzug für lange, fertig konfektionierte Tuchrollen viel zu klein ist, müssen diese durch das Bodenloch ins Erdgeschoss hinabgelassen, dort angenommen und sodann erst versandfertig gemacht werden. „Ich brauche dringend eine ebenerdige Produktion“, sagt Sandra Musculus. Ohnehin seien die Kapazitäten am Standort voll ausgeschöpft. „Wir suchen verzweifelt mehr Platz.“

Dringender Wunsch für Neubau

Handarbeit ist immer noch wichtig bei Musculus

Wunsch ist es, an der Autobahnabfahrt Moitzfeld einen Neubau zu errichten. Das passende Grundstück wartet bereits seit 15 Jahren auf die Bebauung, doch Anwohnerklagen gegen den Bebauungsplan der Stadt vereiteln bislang für Musculus den Standortwechsel. „Für uns ist das eine Katastrophe.“ Zumal Musculus Markisentuch in Bensberg bleiben möchte: „Für mich sind die Mitarbeiter standortbestimmend“, erklärt Sandra Musculus. Die Hälfte ihrer Belegschaft (von Wermelskirchen über Kürten und Lindlar bis Köln) käme per Rad, ÖPNV oder zu Fuß zur Arbeit. „Ich kann gerade bei der heutigen Situation wirklich auf niemanden verzichten. Wenn der Standort nicht stimmt und drei Mitarbeiter aufhören, habe ich schnell ein Produktionsproblem.“ Der größte Wunsch der Musculus-Geschwister zum 100-jährigen Firmengeburtstag 2024 ist damit klar: grünes Licht für den Neubau.

Im Tuchlager findet man alles via Barcode

Autorin und Fotos: Ute Glaser

Kontakt:

Georg Musculus GmbH & Co KG
Manufaktur für technische Textilien und Markisentücher
Ernst-Reuter-Straße 20–22
51427 Bergisch Gladbach

Tel.: 02204 704970
Mail: info@markisentuch.com
Web: www.markisentuch.com

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